Konzept
Themenkomplex HDC 2015-2017: Interkulturalität
Konzept
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AG: Dominik Egger, Andreas Göbel, Dag Nikolaus Hasse, Johannes Hewig, Andreas Rauh, Nina Reinsch, Carolin Rüger, Holger Schramm
Im Human Dynamics Centre der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg werden Themenkomplexe diskutiert und beschlossen, die interdisziplinäre Herangehensweisen ausloten und gemeinsame Forschungs-aktivitäten anregen sollen. Für die Jahre 2015-2017 lautet der Themenkomplex „Interkulturalität“. Dieser Themenkomplex lässt sich durch eine Vielzahl an Begriffspaaren aufspannen, wie etwa Fremdheit – Eigenheit, Differenz – Identität, Macht – Freiheit. Das vorliegende Thesenpapier wird v.a. durch das Begriffspaar Heterogenität – Homogenität dimensioniert und soll zum einen mosaikhaft ein interdisziplinäres Themenfeld zu Interkulturalität konturieren, gleichsam aber auch Anregung dafür sein, interdisziplinäre Brücken zu bauen.
Kultur und Interkulturalität…
Die Dynamik kultureller Pluralität ist in den letzten Jahrzehnten zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Die Humanwissenschaften diskutieren die deskriptiven wie normativen Aspekte von Kultur und Interkulturalität. Der Begriff „Kultur“ selbst zeigt sich dabei insgesamt als vieldeutig und nicht selten diffus. Gleichzeitig nimmt Kultur als fundamentales Wesensmerkmal des Menschlichen einen prominenten Platz in den Humanwissenschaften ein, denn sie bezieht sich auf vielfältige Phänomene des Humanen wie beispielsweise Sprache, Gestik, Verhaltens- und Umgangsformen, Religion, Weltanschauung und Weltdeutung, Werte und Normen.
Zudem beschränkt sich der Begriff der Kultur nicht nur auf geografische Konstrukte (Nationalkulturen), sondern verweist auf viele Arten kultureller Räume. Der Begriff der Jugendkultur verweist beispielsweise auf eine altersbezogene Ebene. Daneben können in einem weit gefassten Kulturbegriff auch das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, körperliche Merkmale, soziale Umgebung, Musikgeschmack und Kleiderstil usw. Anhaltspunkte für kulturelle Unterscheidungen und damit ein kulturelles Zugehörigkeitsgefühl liefern. Die Kultur wird dadurch zu einem Instrument der Ex- und Inklusion.
Unter den Bedingungen der Globalisierung und Internationalisierung der Lebenswelt sind viele Phänomene und Konzepte stärker als jemals zuvor (nur) in einem interkulturellen Kontext zu verstehen und zu erklären. Der Interkulturalitätsbegriff entfaltet zunehmend politisch-gesellschaftliche und damit auch wissenschaftliche Relevanz. Dabei besteht eine enge Verbindung zwischen Interkulturalität und Interdisziplinarität. Kultur und somit auch Fachkultur ergibt sich immer auch durch Interkulturalität, also durch die Begegnung mit, aber auch die Abgrenzung von nicht zur eigenen Kultur Gehörendem. In Abgrenzung zum Multikulturalismus betont der Interkulturalitätsdiskurs nicht das Nebeneinander, sondern das Aufeinandertreffen, Miteinander und Verwobensein heterogener Kulturen.
…in der Geschichte des Menschen
Die Heterogenität und Homogenität in Bezug auf Sprache, Kultur oder Religion waren und sind weiterhin ein Mittel der Fremd- und Selbstbeschreibung von Gruppen von Menschen. Die Postmoderne und der Postkolonialismus haben das Begriffspaar allerdings radikal in Frage gestellt. Wenn bestimmten Gruppen von Menschen Leistungen zugewiesen werden – beispielsweise den Griechen und Persern oder den islamischen und christlichen Kulturen des Mittelalters –, besteht dann nicht die Gefahr, eine „imaginäre Geographie“ zu erfinden (Edward Said), die es so nie gegeben hat? Ist nicht das Individuum der eigentliche Träger all dessen, was wir mit kultureller Aneignung, Differenz, Identität etc. beschreiben? Die postkoloniale Kritik am Begriffspaar heterogen – homogen hat dabei kulturelle Essentialismen („das Volk der Dichter und Denker“, „the Arab mind“ etc.) und die Ausgrenzungsdiskurse von Gruppenetiketten im Visier.
Wie aber müssen dann die Vergangenheit und Gegenwart kultureller Aneignungs- und Migrationsprozesse beschrieben werden? Wenn ganz auf Gruppenzuweisungen für kulturelle Leistungen verzichtet wird, droht eine andere Art des Essentialismus: Das Individuum wird absolut und ohne Rücksicht auf Kontexte betrachtet. Eine solche Dekontextualisierung wäre nicht nur historisch fragwürdig und hermeneutisch bedenklich, sie verhindert auch, die gemeinsamen Leistungen von Gruppen von Menschen zu erkennen und zu würdigen. Außerdem kann sie der Selbstbeschreibung von Gruppen nicht Rechnung tragen. Denn Abgrenzungs- und Heterogenitätsdiskurse waren in der Geschichte wie auch heute nicht nur ein diskriminierendes Mittel der Mächtigen, sondern auch ein Mittel der Minoritäten zur Behauptung der eigenen Identität durch die Betonung der eigenen Andersheit – beispielsweise der christlichen Minoritäten im Islam und der jüdischen Minoritäten in Europa oder der schwarzen Minorität in den Vereinigten Staaten. Und so spricht viel dafür, dass die Wissenschaft auf die Unterscheidung heterogen – homogen auch in postkolonialer Perspektive nicht verzichten sollte.
…in Politik und Gesellschaft
Besonders in der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen steht die Begegnung der Kulturen nicht erst seit Huntingtons The Clash of Civilizations? (deutsch: Kampf [sic!] der Kulturen) im Fokus. Das Aufeinandertreffen, die Interaktion unterschiedlicher Kulturen inkludiert auch die Dimension des interkulturellen Konflikts sowie der Konfliktbewältigung und -bearbeitung. Diese Themen finden in der Friedens- und Konfliktforschung breiten Niederschlag. Gegenwärtig stellt sich in den Internationalen Beziehungen zudem die Frage, ob und wie internationale Normen oder globale Herausforderungen wie beispielsweise Klimawandel oder Migration interkulturell unterschiedlich perzipiert werden.
Auch in der Europaforschung knüpfen viele aktuelle Thematiken an die Interkulturalitätsdebatte an. So entfalten etwa im Kontext der aktuellen Migrationsbewegungen Fragen der Interkulturalität, der Differenz und der Homogenität neue Brisanz. Im Fokus stehen auch die dynamischen Prozesse bei der Bildung einer europäischen kollektiven Identität oder beim Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit, die sich gegenwärtig im interkulturellen Dialog und vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen vollziehen. Wie bettet sich Europa in eine Weltordnung im Wandel ein?
Eine allgemein anerkannte oder gar disziplinüberschreitende Definition von „Kultur“ oder von „Interkulturalität“ bildete sich bisher nicht heraus. Verfolgt wird zumeist ein nicht-essentialistischer Zugang mit einem breiten Kulturbegriff, der die strategischen Kulturen der security studies ebenso umfasst wie gender als kulturelles Orientierungssystem.
…in Psyche und Bewusstsein
In der Psychologie wird Interkulturalität in aller Regel unter dem Stichwort „Cross-Cultural Psychology“ subsumiert und umfasst dabei sowohl Differenzen zwischen Kulturen als auch die gemeinsame Identität menschlichen Verhaltens und Erlebens über Kulturen hinweg. So stellten Ekman und Kollegen (1969) in bahnbrechenden Studien eine gewisse Universalität emotionaler Gesichtsausdrücke für beispielsweise Freude, Trauer, Ekel und Ärger über verschiedenste Kulturen hinweg fest. Trotz dieser Homogenität im menschlichen Gesichtsausdruck zeigten weiterführende Studien durchaus bedeutsame Heterogenität zwischen Kulturen unter anderem in der Wahrnehmung und Bewertung der Intensität solcher emotionaler Gesichtsausdrücke.
Vergleichbare Effekte interkultureller Heterogenität und partieller Homogenität menschlichen Verhaltens und Erlebens zeigten sich unter anderem auch für die intensiv beforschten Bereiche der Persönlichkeitspsychologie und des subjektiven Wohlbefindens, sowie in der klinischen Diagnostik und Gesundheitsforschung. Dabei stellt sich insbesondere die Persönlichkeitspsychologie der Frage, wie groß Unterschiede zwischen Kulturen im Verhältnis zu Unterschieden innerhalb einer Kultur ausfallen.
…in den Medien
Mit Blick auf Medien findet man interkulturelle Aspekte und Fragestellungen unter dem Stichwort „Comparative Communication Research“ – einem Forschungszweig, der sich mit den kulturellen Unterschieden von Mediensystemen, Journalismuskulturen, Medienmärkten, Medienangeboten und -inhalten sowie deren Rezeption, Interpretation, Aneignung und Wirkung beschäftigt (Esser & Hanitzsch, 2012). Zentrale Fragen lauten somit: Wie unterscheiden sich Kulturen darin, wie sie Medien- und Kommunikationsinhalte regulieren, journalistisch aufbereiten, wahrnehmen, verarbeiten und mitunter auch für werbende Zwecke (z.B. im Rahmen von Wahlkampagnen) nutzen? Kann vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Werte erklärt werden, warum ein und derselbe Medieninhalt (beispielsweise eine Fernsehserie, ein Werbespot oder eine politische Dokumentation) in dem einen Land auf starken Zuspruch, in einem anderen Land auf starke Ablehnung trifft? Ließen sich vor dem Hintergrund gemeinsamer kultureller Werte Medieninhalte konzipieren, die kulturübergreifend gleichermaßen geschätzt werden?
Um den Anteil rein deskriptiver komparativer Studien zu reduzieren und den Anteil theoriegeleiteter, hypothesenprüfender und analytisch-erklärender Studien zu erhöhen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit Ansätzen und Theorien, die erklären, wie sich Kultur sowie kulturelle Nähe und Distanz konstituieren, auf welchen Dimensionen sich soziale und kulturelle Gemeinschaften unterscheiden lassen und in welchem Ausmaß diese Dimensionen relevant für den Gegenstandsbereich „Medien“ sind.
…in Bildung und Erziehung
Die Pädagogik wendet sich den Fragestellungen des interkulturellen Diskurses aus verschiedenen Perspektiven zu, und zwar je nach Zielsetzung, mit kulturanthropologischem und bildungsphilosophischem oder etwa sozialwissenschaftlichem Fokus.
Ausgehend von einer Verschränkung der Perspektiven „Individuum“, „Gesellschaft“ und „Kultur“, ergeben sich Antagonismen, die für die Pädagogik von grundlegender Bedeutung sind. Beispiele sind die Spannungsfelder „Macht und Freiheit“, „Eigenheit und Fremdheit“, „Identität und Differenz“, „Kultur und Kulturalität“. Die solcherart komplexe, kulturelle Perspektive beschränkt sich nicht mehr nur auf die Dimension der Migration, sondern wird zu einer generellen pädagogischen Perspektive.
So erfahren interkulturelle Bildung und die Lehre interkultureller Kompetenz(en) einen massiven Bedeutungszuwachs. Der interkulturellen Kompetenz wird dabei das Potenzial sowohl für die Bewältigung kulturell bedingter Konflikte als auch für die Wahrnehmung von Chancen, welche sich im interkulturellen Kontext ergeben, gleichermaßen zugesprochen.
…in Identitätsentwicklung und Inklusion
Das Erleben von dem Eigenen und dem Fremden, von Zugehörigkeit und Ausschluss hat einen großen Einfluss auf die Identitätsentwicklung und das eigene Selbstverständnis. Identitätsbildung steht in einem engen Verhältnis zur kulturellen Herkunft sowie der Sozialisation und Enkulturation. Denn Unterschiede der Wahrnehmung, der kollektiven Konstruktion von Wirklichkeit, der Denk- und Handlungsschemata werden häufig erst im Kontakt mit anderen Kulturen deutlich. Normen und Werte können divergieren und damit sowohl zu intra- wie auch interpersonellen Spannungsverhältnissen führen, welche wiederum Einfluss auf Selbst- und Fremdbild (= Identität) haben (Mead, Goffman). Zwischen persönlichen Erfahrungen sowie Bedürfnissen und den kulturell bedingten Anforderungen der Gesellschaft entsteht eine Wechselwirkung, die es auszubalancieren gilt, um erfolgreiche Identifikationsprozesse in der Differenz zweier oder mehrerer Kulturen zu ermöglichen.
Kulturelle Heterogenität und Differenz erzeugen nicht zwangsläufig Orientierungslosigkeit oder Verunsicherung, sondern können als anerkannte Differenz zu einem reflektierten Verhältnis zum eigenen Denken und Handeln, sowie zu den Werten und Normen der Herkunfts- sowie der Aufnahmekultur führen. Statt den Fokus auf eine möglichst hohe Homogenität einer Gesellschaft zu richten, wird im Zuge der Inklusionsdebatte Unterschiedlichkeit vermehrt als fruchtbare Vielfalt diskutiert. Welche Auswirkungen hat Heterogenität in Bezug auf den sozio-ökonomischen Status, die Sprache, die Herkunfts- und Familienkultur? Inwieweit können im Zuge der Inklusionsdebatte Besonderheiten als Potenzial herausgestellt werden, ohne dabei Differenzen in den Vordergrund zu stellen? Und wie ist die Anerkennung von Heterogenität und Individualisierungstendenzen in einer institutionell homogenisierenden Gesellschaft überhaupt möglich?